Leseprobe aus "Rosina und die Fee"

Vergangene Schatten ...

Manchmal, wenn die Nacht dunkler war als sonst, faltete die Rosina die Hände. Sie behielt die Tür im Blick und horchte mehr in den Flur hinaus als zum Himmel, von dem sie eine Antwort erhoffte.
Den Rücken in das Kissen gelehnt saß Rosina still und schien zu beten. Tatsächlich beruhigten die beiden Hände, die einander berührten, sie zumindest so weit, dass sie aufhörte zu schwitzen.
Doch obwohl sie fast zu glauben wagte, der liebe Gott würde horchend in der Leitung warten, während sie mit klopfendem Herzen die Sprechmuschel zuhielt, wagte sie keinen Ton. Es ging nicht. Jemand würde sie hören, selbst wenn sie die Worte nur dachte. Das Risiko war zu groß für ein kleines Mädchen.
Doch wenn sie vor Übermüdung zu schweben begann, die Konturen ihres Körpers nicht mehr spürte, das Gefühl bekam, als würden ihre Füße den halben Raum einnehmen, während die Hände verschwanden, da huschte ein Bild durch Rosinas Kopf. Nur ganz kurz, damit es niemand merkte.
Das Bild einer Fee, die freundlich lächelte, den Zauberstab schon gezückt, um drei Wünsche zu erfüllen. Nur wie sollte Rosina der Fee ihre Wünsche anvertrauen, so, dass niemand sonst sie hörte?

 

 


Alles super, eigentlich

Beim Frühstück vor der Arbeit hatten Veits Worte so beiläufig geklungen, dass Rosina sich nicht die Mühe machte, hinzuhören. Erst, als er nach dem Abendessen plötzlich aufstand, die Hose glatt strich und sagte: „Ich geh dann jetzt“, traf Rosina der Knüppel.
„Warum? Wohin willst du?“, fragte sie.
Er trat von einem Fuß auf den andern, wich ihrem Blick aus und murmelte: „Was erledigen.“
Rosina lag so viel gleichzeitig auf der Zunge, dass sie lieber nichts sagte. Stattdessen folgte sie Veit in den Flur, wo er in seine Straßenschuhe schlüpfte und die Jacke überzog.
„Schau nicht so“, sagte er. „Heute Morgen hast du doch gesagt, es ist okay.“
Heute Morgen, ja, da war etwas, wahrscheinlich. Sie hätte doch aufpassen sollen, statt den Einkaufszettel zu schreiben.
„Ich komm ja wieder“, murmelte Veit lächelnd.
Dann zog er Rosina, ehe sie protestieren konnte, an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Aber -“
„Mach dir doch einen schönen Abend, Liebes. Leg dich in die Wanne, schau dir einen von deinen Mädels-Filmen ohne mein Gemecker an. Im Gefrierfach ist noch Eis, wenn du magst.“
Das klang eigentlich nicht schlecht. In der Badewanne schwelgen, bis sie aufweichte, ohne dass Veit fluchend vor der Badezimmertür auf und ab stampfte, weil er mal musste. Die Fernbedienung ganz für sich alleine haben. Wann hatte Rosina zuletzt einen so entspannten Abend gehabt?
„Vielleicht hast du Recht“, sagte sie.
„Wart nicht auf mich, kann später werden“, flüsterte er und huschte ins Treppenhaus, bevor sie ihn aufhalten konnte.


Rosina schreckte aus dem Halbschlaf, als Veit zurück in die Wohnung schlich. Er gab sich so angespannt Mühe, keinen Laut zu provozieren, dass jede Regung Krach machte. Rosina hörte seinen Atem, hörte, wie er die Schnürsenkel öffnete und die Füße aus den Schuhen zog.
Sie erwartete ihn im Wohnzimmer.
Aufrecht saß sie auf dem Sofa, rechts neben sich, unter einem Kissen verborgen, die Pfanne. Nur der Stiel ragte heraus, damit sie ihn packen konnte.
Die Vorstellung, ein ernstes Wörtchen mit Veit zu reden, gefiel ihr schon seit über drei Stunden ausgesprochen gut. Sie hatte die Zeit genutzt, die passenden Sätze zurechtzulegen. Eine Mischung aus Anklage und Forderung. Den Rest würde sein schlechtes Gewissen erledigen und er würde alles gestehen.
Für ein Bad oder Fernsehen hatte sie keine Zeit gefunden.
Veit trat leise ins Wohnzimmer, ihr Blick streifte ihn nur.
„Du bist ja noch wach“, sagte er.
„Ja.“
Zögernd kam er zum Sofa, wollte sich rechts von Rosina auf das freie Fleckchen vor dem Kissen setzen, das die Pfanne verbarg. So hatte Rosina das nicht geplant. Sie rückte vor die Pfanne und zwang Veit, an ihr vorbei zur linken Sofaseite zu gehen.
Fremder Geruch stieg ihr in die Nase. Nicht direkt Parfüm und auch nicht Sex. Ein warmer, holziger Geruch.
Veit sank aufs Sofa und seufzte. Er grinste sogar.
Jetzt musste sie ihm sagen, dass es so nicht ging. Ihn ausquetschen, bis er wimmernd zugab, für welche Frau er sie sitzen ließ und warum er beim Zurückkommen diesen Geruch zu verströmen wagte. Und dass er nicht glauben brauchte, er könnte Geheimnisse vor ihr haben. Jawohl. Sie holte Luft.
„Danke, dass du mir Freigang gegeben hast“, sagte er.
Rosina wollte protestieren, als sein Anblick ihr das Wort abschnitt. Sein Gesicht leuchtete, als hätte jemand unter der Haut ein warmes Licht angeknipst. Ein rosiger Film überzog die Wangen. Wann hatte er zuletzt so glücklich ausgesehen?
„Du willst sicher wissen, was ich gemacht habe, aber das muss noch eine Weile mein Geheimnis bleiben. Ich hab Angst, dass es schief geht, wenn ich es erzähle“, sagte er.
Er tippelte die Fingerspitzen gegeneinander.
„Seit wann bist du abergläubisch?“, fragte Rosina.
„Bin ich gar nicht. Nur vorsichtig.“
Er legte den Arm um Rosinas Rücken und zog sie an sich.
Rosina ließ es mit sich machen. Er sah fremd aus, er roch fremd und er redete komisches Zeug. Erst ließ er sie allein, dann war er plötzlich nett zu ihr. Richtig anschmiegsam.
Veit strich über Rosinas Rücken, ganz selbstverständlich. Als hätte er sie heute Abend nicht mit einer anderen betrogen. Wut wallte in ihr auf, sie würde ihm sagen -
Plötzlich hielt er inne. Rosina spürte, wie er die Pfanne bewegte, sie unter dem Kissen hervorzog. Ihr wurde heiß.
„Wolltest du damit Einbrecher verjagen oder mir eines überbraten?“, fragte er.
„Ich wollte den Abend nicht allein verbringen,“ sagte sie.
Ihr kroch die Röte in die Wangen, in den Augen brannte es.
Er lachte.
„Du hast mich mit der Pfanne ersetzt?“, rief er. „Du hast Humor, das liebe ich an dir! Wenn ich mir vorstelle, ich hätte so ein heulendes Elend zuhause, das wegen jedem abgebrochenen Fingernagel drei Tage Trauer hält - das würde ich nicht aushalten.“
Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: „So lange du nicht im Schlaf von deiner Pfanne säuselst, kannst du sie kuscheln, so viel du willst.“
Veit gab ihr mit einem Lächeln die Eisenpfanne zurück und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen.
Rosina bettete die kalte Eisenpfanne auf den Schenkeln und war froh, dass sie Veit nicht mit einem Donnerschlag begrüßt hatte, dass sie nicht in Tränen ausgebrochen war und ihm wüstes Zeug um die Ohren geknallt hatte.
Er benahm sich wie immer, alles war gut.
Aber dann kam ihr der Gedanke, dass er sich natürlich ganz wie immer benehmen würde, wenn er fremdging. Er wollte sie ja in Sicherheit wiegen.
Rosina wog die Pfanne in der Hand. Sie konnte ihm immer noch Feuer machen. Aber das konnte auch gewaltig schief gehen, wenn sie doch daneben lag. Sie wollte ihn nicht grundlos in die Flucht schlagen.
Da kam ihr eine hervorragende Idee. Sollte er doch tun, was er tun musste. Sie waren schließlich beide erwachsen. Sie würde nicht nach bohren, ihn nicht in die Enge treiben. Sie wusste ein viel wirksameres Mittel, ihn an die Leine zu nehmen. Und das Beste: Veit würde davon gar nichts merken.


In der Arbeit öffnete sie am Computer eilig den Kalender, das Schreibprogramm und wahllos einen Formbrief. Genug Fenster, hinter denen sie den Browser verstecken konnte, wenn jemand ins Zimmer kam. Nach einem weiteren Schulterblick zur offenen Türe tippte sie die Webadresse des Online-Shops ein und spürte dem wohligen Kribbeln des Verbotenen nach, als sie die Seite auf dem Bildschirm hatte.
Abgesehen davon, dass sie dem Arbeitgeber ein wenig ihrer Arbeitszeit unterschlug, tat sie nichts Schlimmes. Aber allein schon durch die vielversprechende Auswahl des Shops zu klicken, verursachte ihr euphorische Zustände.
Rosina und der Online-Laden für magisches Handwerkszeug führten schon länger eine heimliche Beziehung. Veit brauchte davon nichts zu wissen.
Voller Vorfreude fuhr sie mit der Maus über die Rubriken-Auswahl und überlegte, in welcher sich der geeignete Zauber befinden mochte. Am unauffälligsten konnte sie mit Kerzen agieren. Veit stand zwar nicht gerade darauf, aber beim Anblick einer schlichten Kerze kam niemand auf die Idee, Rosina heimliche Aktivitäten zu unterstellen.
Aber welche Kerze sollte es sein? Eine für Liebe, eine für Mut, eine zur Ehren der Venus? Nichts traf es richtig.
Rosina klickte weiter, fand Klangschalen, Ritual-Dolche und praktische Sets mit Räucherstäbchen, magischen Kleinoden und Anleitungen für die Durchführung des entsprechenden Rituals. Wobei sie dazu ein weißes Baumwollkleid brauchen würde, mit dem sie dann im Mondenschein ... Nein, übertreiben musste sie nicht.
Obwohl Rosina durchaus neugierig war, wie es wäre, wenn tatsächlich etwas Magisches geschehen und ihre Lebenswelt auf den Kopf stellen würde. Allzu wahrscheinlich war das nicht - aber wer wollte ausschließen, dass solche Dinge von Zeit zu Zeit geschahen.
Am liebsten wäre es Rosina gewesen, durch einen echten Laden zu schlendern, die Dinge anzufassen, daran zu schnuppern und vielleicht eine kundige Verkäuferin um Rat zu fragen. Aber nur vielleicht. Ja, das wäre besser als Online-Shopping, aber sie hatte keinen in der Nähe.
„Hi Rosina, alles klar? Hier, ist eilig“, sagte der Chef und warf einen Hefter auf Rosinas Schreibtisch. „Meeting um zwei geht klar.“
Rosina verhedderte sich zwischen Nicken, Browser-Verstecken und dem Versuch eine passende Antwort zu geben, murmelte irgendwas - der Chef spurtete schon durch den Flur davon. Wahrscheinlich trainierte er hier nebenbei für den Firmenlauf. Rosina schüttelte den Kopf. Mit diesen Fitnessfreaks konnte sie nichts anfangen, vor allem nicht, wenn sie auf leisen Sohlen ins Zimmer huschten.
Notgedrungen erledigte sie die Arbeit und bestätigte für den Chef den 14-Uhr-Termin.
Aber was sollte sie nun mit Veit machen? Sie hatte einiges in der Merkliste des Shops gespeichert, aber das Perfekte war nicht dabei. Am Ende musste sie ihn doch zur Rede stellen oder ein erstklassiges Drama inszenieren. Furchtbar.


Als die Uhr endlich auf halb zwölf stand, klickte Rosina das Browserfenster des Okkult-Versandes weg, sperrte den Rechner und prüfte, ob sie genug Kleingeld einstecken hatte. Sie schmeckte schon die gebrannten Mandeln auf der Zunge, die sie sich heute zum Mittagessen gönnen wollte.
Den Geldbeutel in der Hand schlich sie auf den Flur hinaus und huschte an den offenen Bürotüren vorbei. Sie erreichte das Foyer, rief den Aufzug und hoffte, dass er kam, bevor einer ihrer Kollegen sich dazu gesellte und sie nach ihren Plänen fürs Mittagessen fragte.
Seit sie einmal in eine wüste Gruppendiskussion über die Bedeutung gesunder Mittagsverpflegung für den Erhalt der vertraglich vereinbarten Arbeitskraft verwickelt worden war, stahl sie sich lieber heimlich zu den Quellen süßer Genüsse.
Der Aufzug ließ sich Zeit. Rosina hörte Stimmen vom Ende des Flurs, Lachen. Schritte, die sich näherten. Endlich landete der Aufzug, doch er öffnete quälend langsam die Tür.
Rosina schlüpfte durch den Türspalt, fand den Schließen-Knopf und drückte so lange darauf, bis er endlich tat, wozu er gut war. Hinter den geschlossenen Türen atmete sie auf.
Rosina wollte sicher nicht mit ihren superschlanken Kollegen über gesundes Essen sprechen. Sie las schon in den Blicken ständig den Vorwurf, sie wäre zu dick. Überhaupt wurde viel zu viel geredet.
Sie fuhr in die Passage hinunter und stieg aus, erleichtert, entkommen zu sein, und frei für das duftende süße Päckchen, das wie immer blau und weiß gestreift sein würde. Sie spürte die Wärme der frischen Mandeln schon in den Händen, roch den Zuckerduft.
Da stutzte sie: Das war gestern noch nicht! In dem leerstehenden Laden mitten in der düsteren Passage prangten tausende kleiner Artikel auf Regalen und Tischen, von der Decke baumelten zahllose Waren an dünnen Plastikfäden.
Ungläubig trat sie an die Schaufensterscheibe und starrte hinein. Wie konnte über Nacht all das herangeschafft und ausgepackt worden sein? Kleine Glasfläschchen, Päckchen und Tüten, alles fein angeordnet. Die Arbeit vieler Stunden.
Ein Schatten huschte heran, jemand trat dicht hinter Rosina. Die betriebseigene Gesundheitspolizei, dachte sie.
„Für offene Wünsche tritt nur durch die Tür“, sagte eine fremde, singende Frauenstimme. „Bitte sehr.“
Rosina drehte sich, rempelte gegen das Schaufenster.
Eine lange, sehr schlanke Gestalt sprach mit ihr. Ganz in grüne, fließende Stoffe gehüllt, weiche Wellen im blonden Haar. Wunderschön und durch und durch das Gegenteil von Rosina, die nichts darauf zu antworten wusste.
Sehr langsam und geschmeidig wies die Frau mit der einen Hand zur Ladentür, machte langsame tanzende Schritte, selbst die Falten des grünen Rockes schienen langsam zu schwingen. Wie dünn sie war.
Die Frau dirigierte Rosina mit einem feenhaften Lächeln zur offenen Tür.
Rosina wollte kehrtmachen, doch das seltsame Gebaren der langen, dünnen Frau fesselte sie so, dass sie darüber vergaß, was sie vorhatte.
Ohne den Blick von der Frau in Grün, ihrem wie weichgezeichneten Gesicht zu wenden, trat Rosina halb rückwärts in den Laden. Sie stieß gegen etwas, sah nach, wogegen - ein Tischchen. Sie sollte nicht hier sein, hatte doch ganz andere Pläne. Rosina spürte am ganzen Körper Widerwillen. Selbst die Haut bäumte sich auf. Von der Frau ging etwas aus, das berührungslos wirkte wie Gift. Mit der stimmte etwas nicht.
Hastig schaute Rosina sich nach einem Ausweg um - bis sie bemerkte, in welche Art von Laden sie gedrängt worden war: Räucherstäbchen, Rosenquarz und magische Amulette, Wunschkerzen und allerlei Kräutertees lagen aus. Von der Decke baumelten Windspiele und Seidentücher, durch die Luft waberten Ambra und Weihrauch in feinen Schlieren. Ein Hexenladen. Ein echter Hexenladen zum Anfassen.
Zwischen Tischen und Regalen drehte sich Rosina, sog das Angebot in sich hinein, duckte sich unter herabhängenden Glasperlen und Hexenfiguren. Sie drehte sich, drehte sich weiter. Es gab immer noch ein Regal, noch einen Tisch. Ein endloses Labyrinth magischer Produkte. Und wie akkurat jedes einzelne Ding angeordnet war.
Vor dem Regal mit den braunen Fläschchen blieb sie stehen.
Rosina lächelte. Herrlich, all diese greifbaren Dinge, die den Zauber versprachen, der dem Rest der Welt abging. Vielleicht wurden hier nur Träume verkauft, nur Illusionen - aber wer wusste das schon. Und war Glauben nicht alles?
Gab es diesen Laden womöglich nur, weil Rosina sich so sehnlich einen wünschte, weil sie beim Online-Shopping ständig gestört wurde und sie dringend magische Unterstützung brauchte?
„Willkommen“, sagte die Frau.
Rosina hatte sie komplett vergessen.
Die Frau schwebte Millimeter für Millimeter, als ob sie durch Wasser trieb, hinter einen Tresen mit altertümlicher Registrierkasse. Das Haar schwang langsam herum.
Rosina kniff die Augen zu, schüttelte den Kopf, doch das Bild der Frau blieb verwaschen. Geisterhaft wogte es. Rosina fühlte sich, als schwankte sie mit ihr in der Dünung, 800 Kilometer vom Meer entfernt, draußen nicht einmal Pfützen. Das war nicht normal.
Mit einer Hand suchte Rosina Halt an der Kante des Fläschchen-Regals. Sie fühlte sich untergehen, obwohl sie auf festem Boden stand. Die Knie gaben nach.
Zu wenig Zucker im Blut. Zucker. Mandeln.
„Auf Wiedersehen“, sagte Rosina, wandte sich zur Tür.
„Natürlich.“
Einfach zur Tür gehen, hinaus an die frische Luft. Mandeln kaufen. Rosina fand ihre Beine und befahl ihnen den Weg zur Tür. Sie gehorchten so zäh, als steckten sie in Uferschlick.
„Ich schenke es dir“, sagte die Frau.
„Was?“
Die Frau lachte.
Rosina begriff nichts, bis sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte und in ihre Finger gebettet ein braunes Fläschchen fand.
„Nein, nein, das wollte ich nicht. Also - nicht stehlen“, sagte Rosina.
Hilflosigkeit überfiel sie, sie bekam keine Luft mehr.
„Ich bezahle“, schaffte sie, zu sagen.
Irgendwie bezahlte Rosina. Sie schob das Fläschchen ein, die Frau drückte ihr ausgesprochen langsam und nachdrücklich mit dem Wechselgeld ein Kärtchen in die Hand. Rosina rettete sich nach draußen, bevor sie vollends versank.
Als sie mit dem Kärtchen in der Hand vor dem Landen stand, rang sie nach Luft. Seltsam unecht und schwer kam sie sich vor, die Beine matschig, das Hirn betäubt.
Als wäre sie beinahe ertrunken.
In der Passage sah es aus wie immer: Hier herrschten Halbdunkel und glatte Moderne, dort vorn der Aufgang zu den Büros. An beiden Enden des Passagentunnels eilten durchs Tageslicht Passanten. Niemand verirrte sich herein. Alles wie immer, außer Rosina.
Mit der freien Hand tastete sie in der Hosentasche nach dem kleinen Fläschchen, fand es. Den Einkauf in dem Laden bildete sie sich also nicht ein. Alles andere womöglich schon. Sie ging ein paar Schritte auf den Ausgang der Passage zu, wo das Licht reichte, die Buchstaben auf dem Kärtchen zu entziffern. Es fühlte sich feucht an.
„Drei Wünsche von dir - bring sie zu mir“, las Rosina ab.
Sie hörte sich sprechen, also lebte sie noch.
Unter der Zeile stand ein Name: Nivian Nie. Ein unwahrscheinlicher Name für einen echten Menschen. Wenn, dann musste es der Künstlername dieser Person sein. Merkwürdig, wie sie aussah, sich benahm - wenn diese Frau kein Naturereignis war, dann eine Künstlerin.
Dieses Schwimmende, Schwebende, ein Wesen aus einer anderen Welt.
Rosinas Beine verloren wieder Substanz. Sie musste wirklich zu wenig Zucker im Blut haben. Zeit, die Mandeln zu holen und das Mischverhältnis zu korrigieren.
Sie lief dem hinteren Ausgang zu, von dem aus der Weg zum Mandelstand zehn Schritte kürzer war. Halb treibend, halb fallend kaufte sie eine Tüte warmer, duftender Mandeln, trug sie zurück in die Passage und fuhr mit dem Aufzug hinauf ins Büro. Von selbst fanden die Füße den Weg durch den Flur. Das Mandelpäckchen trug Rosina wie ein Küken zwischen den Händen geborgen.
„Schon wieder da?“, fragte jemand.
Gestalten kamen entgegen, machten Platz.
„Oh, ein süßer Nachtisch? Darf man sich auch mal gönnen“, sagte einer.
Rosina nickte, ohne hinzuschauen. Setzte sich. Vermutlich an ihren eigenen Platz und entsperrte beim siebten Anlauf den Rechner.
Drei Wünsche. Ganz klassisch. Natürlich. So ein Quatsch.
„Mahlzeit!“, rief jemand, der am Gang vorbei kam.
Rosina nickte, schaute nicht auf.
Die duftende Mandeltüte lag auf dem Tisch, wartete auf Rosinas Appetit und auf fiese Kollegen-Kommentare.
Rosina zog die Tastatur heran und tat, als würde sie die Dokumente überarbeiten, die sie heute Morgen aufgesetzt hatte. Auf dem Monitor schwammen Buchstaben umher, die das Weite suchten, sobald Rosina sie zu deuten versuchte. Sicherheitshalber legte sie die Ergebnisse ihrer Arbeit noch nicht dem Chef vor.
Ihre Gedanken kehrten zu dem Kärtchen zurück.
Eine Fee. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Auch wenn die Frau sich seltsam bewegte, singend sprach und überhaupt. Ein simpler Trick, eine gut einstudierte Choreografie. Es sollte ja talentierte Menschen geben, die sowas können. Rosina rechnete sich nicht dazu.
Unterm Tisch pulte sie das braune Fläschchen aus der Hosentasche und befühlte es, führte es zur Tischkante und linste auf das Etikett. Rosina unterdrückte einen Schrei, und steckte die kleine Flasche hastig wieder weg.
Das war nicht möglich. Das war gerade so also ob -
Rosina angelte nach dem Kärtchen in der anderen Tasche und betrachtete es im Sichtschatten des Monitors. Total irre.
Schritte näherten sich, Rosina stopfte das Kärtchen in die Hosentasche.
„Na, im Stress?“, fragte jemand.
„Wie immer“, sagte Rosina.
Doch die Kollegin war schon vorbei, bevor Rosina das erste Wort beendet hatte.
Blöde offene Betriebskultur.
Als die Uhr Richtung Feierabend zeigte, schaltete Rosina den Rechner aus, tappte zum Aufzug und fuhr hinunter.
In der Passage hielt sie inne und überlegte. Hinten herum musste sie nicht an diesem seltsamen Laden vorbei. Doch Rosina wollte noch einen Blick riskieren. Nur aus Neugierde.
Drei Wünsche. Wenn das wirklich funktionierte!

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